Und Nietzsche weinte by Yalom Irvin D

Und Nietzsche weinte by Yalom Irvin D

Autor:Yalom, Irvin D. [Yalom, Irvin D.]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2015-01-13T05:00:00+00:00


14

Nietzsche war in der Tat gewappnet. Kaum hatte ihn Breuer am nächsten Morgen untersucht, übernahm er die Führung.

»Wie Sie sehen«, erklärte er und hielt Breuer ein großformatiges neues Notizheft hin, »bin ich gut gerüstet. Herr Kaufmann, einer der Pfleger, war gestern so freundlich, es mir zu besorgen.«

Er erhob sich vom Bett. »Außerdem habe ich um einen zweiten Lehnstuhl gebeten. Wollen wir uns hinübersetzen und mit der Arbeit beginnen?«

Breuer, auf den Nachdruck nicht vorbereitet, mit welchem sein Patient die Zügel in die Hand nahm, kam der Aufforderung nach und setzte sich neben Nietzsche. Beide Stühle waren dem Kamin zugewandt, in dem ein munteres Feuer prasselte. Nachdem er sich einen Moment lang an den gelb züngelnden Flammen gewärmt hatte, rückte Breuer seinen Stuhl so hin, daß er Nietzsche gegenübersaß, und bat ihn, das gleiche zu tun.

»Ich denke«, begann Nietzsche, »wir sollten zunächst die Grundkategorien der Analyse bestimmen. Ich habe mir erlaubt, die Belange zu notieren, welche Sie gestern nannten, als Sie um meine Hilfe baten.«

Nietzsche schlug sein Heft auf, blätterte und las die je auf einer eigenen Seite aufgeführten Punkte ab: »Erstens: Niedergeschlagenheit. Zweitens: von fremden Gedanken heimgesucht. Drittens: Selbstverachtung. Viertens: Angst vor dem Altern. Fünftens: Angst vor dem Tode. Sechstens: Selbstmordimpulse. Ist die Liste vollständig?«

Breuer, den Nietzsches förmlicher Ton befremdete, war wenig angetan, seine intimsten Sorgen und Nöte derart papiern und nüchtern aufgezählt zu hören. Erst einmal jedoch zeigte er sich konziliant. »Nicht ganz. Mich bedrückt zudem mein Verhältnis zu meiner Frau; ich fühle mich auf unerklärliche Weise entfremdet – als wäre ich in einer Ehe, einem Leben gefangen, welche ich so nicht gewählt hatte.«

»Würden Sie das als ein weiteres Problem bezeichnen, oder zwei?«

»Das hinge von Ihrer Definition der Kategorien und Dimensionen ab.«

»Ja, das bereitet Schwierigkeiten, nicht minder die Tatsache, daß die einzelnen Punkte nicht derselben logischen Stufen angehören. Einige könnten Folge oder auch Ursache anderer sein.« Nietzsche blätterte in seinem Heft. »›Niedergeschlagenheit ‹ etwa könnte eine Folge der ›fremden Gedanken‹ sein. ›Selbstmordimpulse‹ könnten sowohl Folge als Ursache der ›Angst vor dem Tode‹ sein.«

Breuer wurde noch unbehaglicher. Ihm gefiel die Wendung, die das Gespräch nahm, ganz und gar nicht.

»Wozu überhaupt eine solche Liste erstellen? In irgendeiner Weise ist mir die Vorstellung einer Liste unangenehm.«

Nietzsche blickte bekümmert drein. Offenbar war es mit seinem sicheren Auftreten nicht weit her: das leiseste Murren von Breuer, und seine Haltung änderte sich schlagartig. Mit einem Mal bescheiden, erklärte er: »Ich hatte gedacht, es wäre uns gedient, wenn wir Ihre Probleme in eine Abstufung bringen könnten. In Wahrheit bin ich mir jedoch nicht im klaren darüber, ob es besser wäre, mit der schwerwiegendsten Bedrängung zu beginnen – nehmen wir einmal an, diese wäre die Angst vor dem Tode – oder mit der am wenigsten schwerwiegenden oder abgeleitetsten – etwa, um etwas willkürlich herauszugreifen: den fremden Gedanken. Oder empfiehlt es sich, mit der klinisch gewichtigsten, also lebensbedrohlichsten anzufangen – vielleicht den Selbstmordimpulsen. Oder mit der lästigsten, der, welche Sie im Alltag am meisten beeinträchtigt – etwa der Selbstverachtung.«

Breuer wurde immer unwohler. »Ich bezweifle, daß eine solche Vorgehensweise überhaupt geeignet ist.



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